Textatelier
BLOG vom: 28.03.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (1)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
„Du hast gesorgt, du hast geschafft,
gar manchmal über deine Kraft.
Müh’ und Arbeit war dein Leben.
Alles hast Du uns gegeben.“ 
Wenn ich solch einen Trauerspruch in einer Todesanzeige lese, frage ich mich, ob es wirklich so war, und wenn das stimmte, ob dieser Mensch das getan hat, was ich unter „leben“ verstehe. Hat er wirklich gelebt, hat er sich nur ausnutzen lassen? Heisst „leben“ nicht auch, sich selbst zu finden, hedonistisch zu denken, nicht nur für andere da zu sein? Wenn die Aussage stimmt, beschreibt sie nicht ein verpfuschtes Leben?
 
Auf Flohmärkten sind oft Nachlässe zu finden, Dinge aus Haushaltsauflösungen werden in Kartons gelegt und die Kartons auf der Erde aufgereiht. Alle diese Sachen gehörten einmal Menschen, die verstorben sind. Die einzelnen Dinge verraten gelegentlich, wie die ehemaligen Eigentümer gelebt haben, welche Interessen sie hatten, welche Bücher sie gelesen und welche Musik sie geliebt haben, welchen Hobbys sie nachgegangen sind.
 
Oft finde ich nichts oder nur das eine oder andere Buch, das mich interessiert. Im Laufe des Lebens habe ich mich mit so vielen Aspekten des Daseins beschäftigt, habe meine Lieblingsschriftsteller und meine Lieblingskomponisten entdeckt, die mich faszinieren, finde neue Erkenntnisse in den Naturwissenschaften, sei es in der Physik, sei es in der Gehirnforschung, spannend. Philosophische, psychologische und soziologische Gedankenwelten sprechen mich an, die Auseinandersetzung mit der Welt von heute. Dennoch bleibe ich offen für neue Reize, für neue Erkenntnisse, fremde Gedanken.
 
Wieder einmal sah ich mir die Exponate an. Ich stiess auf Fjodor Dostojewskijs Schrift „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“. Darin lag ein dicker Briefumschlag. Ich bezahlte das Büchlein, der Händler wollte nur einen Euro dafür haben.
 
Ich blätterte die Seiten der Aufzeichnungen durch. Einige Sätze waren dick unterstrichen: „Ich übe mich im Denken, folglich zieht bei mir jeder primäre Grund einen anderen nach sich, der noch primärer ist, und so geht es weiter bis ins Endlose.“ War der ehemalige Besitzer so ein Denker? Oder hat er diese Schrift zum Anlass genommen, sich im Denken zu üben?
 
Ein paar Seiten weiter hinten zitiert Dostojewskij einen imaginären Leser, der sagt: „ Sie lechzen nach Leben und wollen Lebensfragen durch logische Konfusion lösen ... Sie haben wirklich etwas zu sagen, doch aus Furcht halten Sie Ihr letztes Wort zurück, denn Sie besitzen nicht die Entschlossenheit, es auszusprechen, sondern nur feige Dreistigkeit. Sie prahlen mit Ihrem Bewusstsein, aber Sie schwanken bloss hin und her.“
 
Dann wird der Dichter konkret: „In den Erinnerungen jedes Menschen gibt es Dinge, die er nicht allen mitteilt, höchstens seinen Freunden. Aber es gibt auch Dinge, die er nicht einmal den Freunden gesteht, sondern höchstens sich selbst und das nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Schliesslich gibt es auch solche Dinge, die der Mensch sogar sich selbst zu gestehen fürchtet, und solche Dinge sammeln sich bei jedem anständigen Menschen in ziemlicher Menge an. Es ist sogar so: je anständiger der Mensch ist, desto mehr davon hat er.“
 
Diese Sätze der Aufzeichnungen waren ebenso unterstrichen oder am Rande gekennzeichnet. Zu Hause angekommen, öffnete ich den Briefumschlag.
 
Ich begann zu lesen. Die erste Seite begann mit dem Satz: „Mag sein, dass ich feige bin. Meine Geheimnisse drängen nach draussen. Aber sie sollen erst nach meinem Tod an die Öffentlichkeit kommen. Ich übe mich im Denken und ich habe meine Gedanken nie jemanden mitgeteilt, auch nicht meiner Partnerin, meinen inzwischen erwachsenen selbstständigen Kindern,  meinen Freunden. Sie hätten mich nicht verstanden. Sie hätten mir nicht geglaubt. Sie hätten gedacht, das sei nicht ich, das könne nicht sein.“
 
In seinem Nachlass auf dem Flohmarkt hatte ich keine Hinweise darauf gefunden, dass er gläubig war. Er wird auch keinen Seelsorger gehabt haben, an den er sich hätte wenden wollen oder können. Es waren keine Bücher über Psychologie, Psychiatrie oder Psychoanalyse dabei. Ob er sich über Sigmund Freuds Ideen informiert hat? Ob er über die Dinge wie das Unbewusste und das „Es“ Bescheid gewusst hat? Sein Alter war schwierig zu bestimmen. Die meisten Bücher waren im letzten Jahrhundert erschienen, manche schon vor dem II. Weltkrieg.
 
Mehr stand nicht auf dieser Seite. Es war offensichtlich, seine „Lebensbeichte“ knüpfte an Dostojewskij an.
 
Die Seiten waren nummeriert. Auf der folgenden Seite stand: „Kann ein Mensch eine lebenslange Abneigung gegen das Leben haben? Ich bin davon überzeugt. Meine Eltern haben nie ein Wort über diesen Vorfall verloren. Ich muss ein Halbwüchsiger gewesen sein. Ich war wohl aus irgendeinem Grund wütend geworden und hatte zornig geantwortet. Ich habe sie damals richtig geschockt, das war an ihren Reaktionen zu merken. Ich hatte ihnen vorgeworfen, dass sie mich in die Welt gesetzt haben. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, das muss ich wohl geschrien haben, wäre ich nie geboren worden, hätte ich diese ‚Scheiss-Welt’ nie betreten.“
 
Das war etwas, was man in Norddeutschland mit „starker Tobak“ kommentieren würde. Ein Halbwüchsiger, der das Leben ablehnt. In der heutigen Zeit würden sich Eltern, deren Kind so etwas äussern würde, einem Jugendpsychologen anvertrauen. Damals war die Zeit für so einen Schritt noch nicht reif. Seine Eltern hatten vermutlich keine Ahnung von Psychologie. Für sie waren diese Äusserungen unbeabsichtigt, einem unüberlegten Wutanfall entflossen, so unglaubwürdig klangen sie.
 
Damit endete das Blatt. Die nächste beschriebene Seite mit der Zahl 3 war einem anderen Schreibpapierblock entnommen. Zwischen dem zuletzt aufgeschriebenem „Geständnis“ muss einige Zeit vergangen sein, auch die Schrift war verändert. Leider waren die Seiten nicht mit einem Datum versehen.
 
„Meine Eltern hatten mir ein Gefühl für Pflicht und Verantwortung vermittelt. Sie hatten diese Werte vorgelebt. Obwohl es immer zu wenig Geld gab, litten wir nie unter Hunger. Die regelmässigen Mahlzeiten waren Ritual und zugleich Pflicht, daran teilnehmen zu müssen. Alles andere hatte dafür zurückzustehen. Verabredungen hatten sich danach zu richten. Von innen hatte ich mich diesem Zwang schon lange entzogen, ich konnte aber nicht einfach abhauen. Solange ich nicht volljährig war, und das wurde ich erst mit dem Erreichen des 21. Lebensjahres, hatten meine Eltern, vor allem mein Vater, Gewalt über mich, das, was sie ‚Sorgerecht’ nannten. Ich höre ihn noch schreien: ‚So lange wie du deine Füsse unter meinen Tisch stellst, so lange tust du, was ich dir sage.’ Und wenn ich das nicht täte, sperrte er mein Taschengeld und manchmal sogar auch mich ein.
 
Ich war eine Leseratte und in einigen meiner Bücher wurde auch über Selbstmord, manchmal auch Selbsttötung oder das freiwillige Aus-dem-Leben-Gehen geschrieben. In den Stunden im Bett, in denen ich nicht schlafen konnte, malte ich mir aus, wie ich das anstellen könnte. Zuerst das einfache Abhauen, dann auch die Flucht aus dem Leben. An ein Leben nach dem Tode oder an die uns von dem katholischen Pfarrer eingebläute Ansicht darüber, wie wertvoll das Leben sei und dass man es bewahren müsse, glaubte ich schon lange nicht mehr. Trotz des Zwanges, in die Kirche zu gehen, hatte ich mich im Innern längst distanziert. Es langweilt mich nur noch. Die Kirche hatte mit dem alltäglichen Leben nicht das Geringste zu tun, ich empfand sie als lebensfremd. Die Theodizee und die Geschichte der Kirche mit ihren Gräueltaten im Mittelalter bestärkten mich nur in meiner Ansicht. Gott existiert nicht, und wenn doch, hat er nichts mit dem menschlichen Leben zu tun. Vom Beten etwas zu erhoffen, grenzte in meinen Augen an Selbstbetrug. Und am Ende des Lebens ist einfach Schluss, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“
 
Das las sich wie eine Beschreibung von Pubertierenden, die sich aus den Zwängen der Autoritäten lösen, die ihren eigenen Weg gehen wollen. Die Erkenntnis, dass Leben auch Widersprüche bedeutet, durch die sich der Heranwachsende seinen eigenen Weg bahnen muss. Was prägt einen Menschen? Natürlich die Liebe der Eltern und Familie, das Erlebnis des Geborgenseins, das Überstehen von Krankheiten, das Sich-Behaupten in der täglichen Auseinandersetzung mit Eltern, Geschwistern und Gleichalterigen, die Einflüsse, denen er in der Schule, in der Kirche ausgesetzt ist, der Medienkonsum. Alles das fliesst zusammen und mischt sich mit dem genetischen Erbe zu einer Lebenseinstellung. Was in der geschilderten Gedankenwelt auffällt, ist, dass sich der Jugendliche bereits mit dem Tod beschäftigt, mit dem Ende des Lebens, das nicht nur ein natürliches Ereignis im hohen Alter bedeuten kann, sondern auch ein bewusst gewähltes, überlegtes. Der Jugendliche steht schon ausserhalb der Lehrmeinung, das Leben sei „heilig“ und dürfe nicht durch eine eigene Entscheidung „weggeworfen“ werden. Er fühlte sich schon zu diesem Zeitpunkt als jemand, der über sich selbst zu entscheiden hat und entscheiden kann.
 
Fortsetzung folgt.
 
Quelle
Dostojewskij, Fjodor: „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“, Übersetzung von Swetlana Geier, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 8021, Stuttgart, 1984. 
 
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